Vergänglich wie eine Schneeflocke

Vergänglich wie eine Schneeflocke

Gedankenverloren sitze ich am Fenster, der Regen prasselt von überlappenden grauen Wolkendecken hinunter. ‚Können es keine weißen Schneeflocken sein?‘, geht es mir durch den Kopf. ‚Werde ich überhaupt nochmal Schnee sehen?‘ Tränenflüssigkeit steigt in meinen Augen auf. Früher hat mich dies nicht interessiert, da war Schnee einfach nur kalt und mit Matsch verbunden. Doch gerade in diesen Moment, indem die Wolken tropfen und ich am liebsten einen Stöpsel dazwischen klemmen möchte, sehne ich mich nach weißem kaltem Schnee. Wie gerne würde ich mich in einer Schneedecke legen und diese Paradoxie von lebendiger toter Kälte spüren. Möchte diesen Vorgeschmack vom Tod spüren, schließlich ist das Leben vergänglich.

Mit fünfzehn Jahren besuchte ich meine Großmutter im Altenheim. Sie hatte Demenz und das im fortgeschrittenen Stadium. Sie erkannte niemanden, vermutlich nicht mal mehr sich selbst. Der Schleier des Nichtwissens hatte sich bei ihr vollkommen ausgebreitet. Ich stand am Türrahmen ihres Zimmers und schaute sie an. Sie war abgemagert und ihre runzlige Haut war blass. Eine Schwester kämmte ihr schneeweißes Haar, wie bei einem kleinen Mädchen. Sie war eine hübsche Frau und überlebte zwei Weltkriege. Wie gerne hätte ich sie über die Vergangenheit ausgefragt. Hätte gerne mehr erfahren. Doch jetzt war es zu spät! Starr im Türrahmen stehend, sah ich das vergängliche Leben. Unsere Blicke trafen sich und in ihrem Antlitz sah ich fast vollkommende leere. `Hat sich ihre Seele bereits aufgelöst und ist ihr Körper nur noch der Schutz ihres letzten Seelenteils? `, fragte ich mich. Die Erlösung ins Nirvana. Meine Augen hafteten an ihr. Trauer und Hoffnung spiegelten sich. Ihre Körperhaltung war gekrümmt, die Augen starr und unendlich weit, gleich eines Universums in der Dunkelheit. In meinen Kopf bildeten sich tausend Gedankengänge, ich konnte sie nicht strukturieren. ‚Hast du Angst?‘, wollte ich fragen. Damals hätte sie gesagt „Ach Mädchen wovor soll ich Angst haben.“ Doch sie saß mir wie ein unbeholfenes Kind im Körper einer alten Frau gegenüber. Sie war hilflos. Mir schossen Tränen in den Augen und ich musste an die frische Luft. Es war das letzte Mal, dass ich sie sah.

Nun soll auch ich sterben? Der Arzt musste sich sehr über meine Reaktion gewundert haben, den in diesen Moment grinste ich dem Leben ins Gesicht oder besser gesagt dem Tod. Mir erschien alles so surreal. Ich habe mir mein Todesurteil anders vorgestellt, anstelle von einem schwarzen Sensenmann wurde ich vom weiß gekleideten Arzt über meinem Gesundheitszustand informiert und dieser war niederschmetternd. Ich hatte schon seit einiger Zeit das Gefühl, dass mit mir irgendwas nicht stimmte. Ich nahm immer mehr ab, obwohl ich mehr aß. War oft sehr müde, doch ich konnte nicht schlafen und wenn ich schlief dann sehr unruhig. Doch das verängstigtste war das vermehrte Nasenbluten und die Nebenblutungen. Nachdem ich das Arztzimmer verlassen hatte gingen mir tausend Fragen durch den Kopf und wiederum war er komplett leer. Leute gingen an mir vorbei, ich nahm sie nur unterbewusst wahr. Mir schien als ob ich durch einen Tunnel mit lebenden Bildern ging. Dem weißen Licht entgegen. Wie sollte ich die kurze Zeit weiterleben? Sollte ich es Freunden und Familie erzählen? Wie erzählt man, dass man sterben muss? Gibt es eine Gebrauchsanweisung? Ich konnte sie im großen World Wide Web nicht finden und schließlich gibt es für jeden Müll eine Anleitung. Doch nicht für das Sterben. Ich selbst wollte mich nicht im Mittelpunkt drängen und doch wollte ich besonders viel Zeit mit den Leuten verbringen, die ich mag. Weiterhin wollte ich Dinge machen, die ich mochte, ohne den klapprigen alten Dunklen im Nacken spüren zu müssen. Nun war er aber der Schatten meiner selbst. Ich habe das Gefühl, dass Leute ihn manchmal sehen können. Ich registriere entsetzte Blicke von fremden Leuten. Natürlich werde ich immer blasser und die Haut durchsichtig, doch ich bin noch am Leben und habe die Lust daran noch nicht verloren. Ich lache den Tod ins Gesicht, schließlich habe ich noch Träume.

Ich werde den Schleier des Nichtwissens wahrscheinlich erst in der letzten Sekunde des Ablebens gegenüberstehen und mit ihm in einem anderen Universum treten. Habe ich Angst? Ich weiß es nicht. Viel mehr bin ich gespannt und hoffe, dass ich als Sternenstaub irgendwo im großen Universum zu einer Materie werde.

Freunden und Familie habe ich schließlich davon erzählt und ich verbringe viel Zeit mit ihnen. Wir lachen viel. Manchmal denke ich, `danke das ich die Zeit noch bewusst so schön erleben darf.‘ Es mag seltsam klingen, doch ich nehme die Umwelt intensiver war. Die Trauer möchte ich nicht verleugnen, ich sehe sie in den Augen von Freunden und Familie. Gerade meine Mutter leidet sehr darunter. Es ist schwieriger dem Kind beim Sterben zusehen zu müssen, als den eigenen Tod hinzunehmen. Wenn wir uns verabschieden sehe ich ihren Schmerz und welche Kraft es ihr kostet stark zu sein und mich zerreißt es manchmal. Zusammen mit meinem Vater mache ich Witze über den Tod, doch es ist sein Weg mit diesen Dingen fertig zu werden und mit der Angst des Verlustes. Der Verlust der eigenen Tochter. Ich werde ihn nicht nachvollziehen können. Ich kann ihn nur erahnen.

Ich sitze allein am Fenster. Der Ausblick aus einem Fenster hat so etwas Transparentes, oftmals verläuft das ganze Leben darin ab. Zusammengekauert rinnen Tränen über meinen Wangen. Noch immer regnet es. Pascal mein Freund kommt ins Zimmer. Ich schau ihn an: „Ich will nicht sterben.“, sage ich. Er setzt sich neben mich und umarmt mich. Ich lehne mich an seine Brust. Der Regen hat aufgehört. Mir wird mal wieder bewusst das, dass ganze Leben vergänglich ist und wir im großen Universum nur ein kleines Fundament sind, ähnlich einer Schneeflocke.